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Zärtlich streichelte Ewald mit zwei Fingern über ihre kalte, weiße Wange. Am Mittag hatte sie ihm noch, mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln um die Mundwinkel, geantwortet. Dann musste er kurz zur Toilette, nur einmal den Flur hinunter bis zu den Fahrstühlen. Nur für wenige Minuten hatte er sich von ihrem Bett entfernt und da war sie gegangen, einfach gestorben.

Wäre er dort gewesen, hätte er sie halten können, er hätte Sturm geklingelt und nach der Schwester gerufen. In seinem Innern schrie eine verzweifelte Stimme: „Anni, lass mich nicht allein!“ Aber aus seinem Mund war kein Laut gekommen. „Herr Naumann“, Schwester Hildegard hatte eindringlich auf ihn eingesprochen, „wir hätten nichts mehr für ihre Frau tun können. Sehen Sie, wie friedlich sie aussieht. Sie wollte nicht mehr kämpfen!“ Aber er hatte noch kämpfen wollen! Er war noch nicht bereit.

Und jetzt lag sie hier in diesem fremden Zimmer, in das die Patienten gebracht werden, wenn sie keine Patienten mehr sind. Schwester Inga hatte sie mit ihrem Bett in diesen Raum geschoben. Sie hatten ihr die Haare gekämmt und das Kopfkissen gerichtet. Da lag sie, seine Anni, das kleine, blasse Gesicht auf dem großen, weißen Kopfkissen. Ihre Hände kamen ihm seltsam fremd vor, diese starken Hände, die ihr Leben lang in Bewegung gewesen waren, die so viel bewegt hatten. Die Finger, leicht gekrümmt, lagen auf der Bettdecke, durchscheinende, fast pergamentartige Haut über hervorstehenden Knöcheln.

Unwillkürlich schob Ewald seine Hand in die rechte Jackentasche und zog die Handcreme heraus. Er schraubte den Deckel auf und strich sich einen großen Kleks in die Handinnenfläche. Seit sie nicht mehr selbst dazu in der Lage gewesen war, hatte er das Eincremen übernommen, zweimal täglich, so wie er es in den vielen gemeinsamen Jahren Tag für Tag bei ihr gesehen hatte. Vorsichtig nahm er erst die eine, dann die andere Hand seiner Frau. Durch einen Spalt in der Tür blickte Schwester Hildegard auf den alten Mann, dessen Oberkörper leicht nach vorn gebeugt fast unmerklich zitterte. Wie liebevoll er die Hände seiner Frau streichelte. Sie würde später wieder kommen und das Notwendige mit ihm besprechen.

 

Alles war geregelt. Sie hatten ihm alle geholfen, die Pastorin, die ihm Trost zugesprochen und so freundlich über seine Anni geredet hatte und die nette Dame vom Krankenhaussozialdienst, die mit Leichtigkeit viele Papiere ausfüllte, die er am Abend zuvor lange auf dem Küchentisch hin und her geschoben hatte. Wenn er daran dachte, spürte er, dass sich ein paar Tränen in seine Augen schleichen wollten. „Ewald!“, schalt er sich, „reiß` dich zusammen! Du bist doch keine alte Heulsuse! Nach acht Tagen muss doch mal Schluss sein!“ Sicher lag es daran, dass ihn jedes Mal, wenn er das Krankenhaus betrat, irgendjemand ansprach, eine Schwester, die junge Assistenzärztin, sogar die Frau vom Reinigungspersonal, die er so schlecht verstanden hatte, weil sie mit diesem Akzent in schwindelerregendem Tempo auf ihn eingeredet hatte.

Ewald hatte viele mitfühlende Worte gehört und noch nie in seinem Leben so viele warme Händedrücke verspürt, wie in diesen letzten Tagen. Von manchen war er sogar in den Arm genommen worden. Er war sich ganz sicher, dass er auch das seiner Anni zu verdanken hatte. „So eine liebe und geduldige Patientin! Sie war immer dankbar, hat nie geklagt!“ Die ganze Station 20 schien sich darin einig zu sein. Über ihn als Patient hätten sie anders gesprochen, kein Zweifel. Er hatte sich in seinem Berufsleben wohl eher den Ruf erworben, ein durchaus schwieriger Zeitgenosse zu sein. Ein Eigenbrötler, hatte auch seine Schwester gesagt.

 

Ewald betrat den Eingangsbereich der Euregio-Klinik – des Kreiskrankenhauses – wie er aus alter Gewohnheit noch immer sagte. In der linken Hand hielt er einen üppigen Blumenstrauß, gelbe Astern von Schleierkraut und viel Blattgrün umrahmt. „Machen Sie mir bitte einen Strauß für 15 Euro, der ein bisschen was her macht!“, hatte er der Verkäuferin aufgetragen und das war das Ergebnis. Beim Bezahlen lächelte sie ihn unsicher an: „Wenn es nachts friert, werden sie natürlich nicht so lange halten!“ Komisch, dachte Ewald, was diese Bemerkung sollte. Er war sich sicher, dass sie im Krankenhaus auf eine gleichbleibende Temperatur achten würden.

In Gedanken leicht den Kopf schüttelnd, ging er auf die Aufzüge zu. Mit leidlich schlechtem Gewissen wandte er seinen Blick von der Halterung mit dem Desinfektionsmittel ab, betrat den Fahrstuhl und drückte die Zwei. Ein Blick in den Spiegel an der Rückwand zeigte Ewald, dass die letzten Tage Spuren hinterlassen hatten, die sich in und um seine Augen herum zeigten. Innere und auch äußere Spuren, wie den kleinen hellen Fleck auf seiner anthrazitfarbenen Weste, die unter der schwarzen Winterjacke hervorlugte. Er wäre Annis Argusaugen sicher nicht entgangen und hätte das Haus niemals unbearbeitet verlassen.

Oben angekommen, bogen seine Füße gewohnheitsmäßig nach rechts ab und trugen ihn auf seine Station, direkt zum Schwesternzimmer. „Herr Naumann“, Schwester Hildegards Augenbrauen schienen um wenige Millimeter nach oben gegangen zu sein oder hatte er sich das eingebildet. „Was führt Sie denn zu uns? Fehlt noch etwas?“ „Nein, nein … ich wollte mich nochmal bei allen bedanken für die gute Pflege!“, beeilte sich Ewald zu sagen. Er lächelte schief, ein hilfloses Lächeln, das sonst so gar nicht zu ihm gehörte und ihm auch selbst unpassend erschien. Schwester Hildegard schien das ähnlich zu empfinden. Sie stockte einen kurzen Moment, trat auf ihn zu und nahm den Blumenstrauß, den er ihr entgegenstreckte, mit einem Kopfnicken entgegen. „Aber Herr Naumann, jetzt haben Sie uns schon so häufig gedankt, der Kuchen, die Pralinen und…“ – „… die Marzipanbrote“, ergänzte Schwester Inga mit einem freundlichen Lächeln.

„Jedenfalls, ist Ihr Dank wirklich bei allen Mitarbeitern auf der Station angekommen und ich kann Ihnen versichern, dass sich alle über diese Wertschätzung gefreut haben. Leider ist im Tagesbetrieb viel zu tun, wie Sie ja wissen, da wird heute keiner so richtig Zeit für Sie haben. Wenn Sie wollen, rufe ich kurz bei der Pastorin durch, ob die vielleicht…“ Ewald spürte förmlich, wie sich seine Gesichtszüge verschoben. „Fassung, Ewald, Fassung!“, versuchte er sich beruhigen. „Äh, ich bin eigentlich gekommen um Frau Brameier zu besuchen. Meine Frau hat mich gebeten ab und an bei ihr vorbei zu schauen, weil sie ja keinen Besuch bekommt“, log er. „Schlecht gelogen, Ewald!“, er registrierte es sofort. Schwester Inga schlich sich an ihm vorbei und murmelte etwas von Infusion überprüfen und Schwester Hildegard schaute ihn eindringlich an. „Tja dann…“, er drehte sich auf dem Absatz um, ging ein paar Schritt zu Zimmer 12, klopfte und trat im gleichen Augenblick ein. Frau Brameier schlief. Gott sei Dank! Ewald ließ sich neben ihrem Bett auf den Besucherstuhl sinken.

Nachdem Ewald Frau Brameier das erste Mal „besucht“ hatte, ging er noch zweimal zu ihr. Sie war immerhin eine Anlaufstation. Aber das Ganze funktionierte nur, wenn sie schlief. Sie war keine Frau wie seine Anni, zurückhaltend und dankbar für seine Gegenwart. Nein, sie konnte es einem verdammt schwer machen und vor allen Dingen war sie misstrauisch.

 

„Soll es wieder das Plunderteilchen sein?“ Ewald sah hoch und registrierte, dass die Bedienung der Cafeteria ihn meinte. Sie lächelte: „Gestern haben Sie das Plunderteilchen genommen.“ Sie erinnerte sich an ihn und sie wollte ihm damit eine Freude machen. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie durch ihn hindurchgeschaut hätte. Früher hatte ihn oft das Gefühl geärgert, nicht wahrgenommen zu werden. „Silberköpfe sehen alle gleich aus!“ Welcher Schnösel hatte nochmal diesen respektlosen Spruch von sich gegeben? Auf jeden Fall gehörte er schon lange zu dieser Gruppe und würde sich gerade jetzt darüber freuen, wenn dem so wäre.

Seit drei Tagen verbrachte Ewald einen Gutteil seines Tages in der Cafeteria, erlaubtes Terrain für Patienten, Besucher und Außenstehende wie ihn. Es war ein Kompromiss! Das spürte er ganz deutlich. Eigentlich wollte er auf seine Station. Er wollte kein Außenstehender sein, er hatte doch dazu gehört. Und er würde noch dazu gehören, wenn Schwester Hildegard nicht wäre. Die anderen würden sich freuen, wenn er käme, da war er sich ganz sicher. Er könnte ihnen zur Hand gehen, so wie er das auch vorher schon hin und wieder getan hatte. Sie mochten es, wenn er ihnen galant die Türen aufhielt, nur Hildegard, dieses Mannweib, wusste das nicht zu schätzen. Sie hatte wohl ein grundsätzliches Problem mit Männern, soviel stand für Ewald fest. Und er hatte ein grundsätzliches Problem mit ihr! In dieser Sitzecke war er nicht sicher vor ihr. Gab es hier eigentlich Sicherheitspersonal, das sie ihm auf den Hals hetzen konnte? Natürlich konnte sie ihm nicht verwehren, solange in seiner Sitzecke zu verweilen, wie es die Öffnungszeiten erlaubten, aber sie konnte ihn an den Pranger stellen: „Achten Sie auf diesen Mann, Ewald Naumann! Er gehört nicht hierher! Er versucht sich einzuschleichen!“

 

Mittlerweile hatte Ewald Übung darin, sich auf den langen Fluren schnell und geschäftig oder eben langsam und suchend zu bewegen, auf jeden Fall war er Spezialist darin geworden, sich seinem Krankenhausumfeld anzupassen. Er probierte die einzelnen Stationen aus. Die gynäkologische und die Kinderstation waren problematisch für Silberköpfe, die hier eindeutig eine Minderheit darstellten. Insofern kam er hier eher in den fragwürdigen Genuss der besonderen Beachtung.

Um die Kinderstation tat es ihm leid. Er mochte die bunten Flure, an deren Wänden sich Tiere- und Fabelfiguren ein Stelldichein gaben. Hier hätte er lange sitzen können. Obwohl der liebe Gott ihnen keine eigenen geschenkt hatte, war es ihm immer leicht gefallen einen Kontakt zu Kindern herzustellen, viel leichter als zu Erwachsenen.

Seine Anni hatte diese Frauengeschichte gehabt, damals in den frühen Fünfzigern. Sie hatte hier in den Kreis- und Stadtkrankenanstalten gelegen und so viel geweint. Der damalige Name des Krankenhauses war ihm in Erinnerung geblieben, weil es dieses große Jubiläumsfest gab, bei dem auch die neue Kinderstation gefeiert wurde. Natürlich hatten sie keinen Anteil an den Feierlichkeiten, aber sie waren untrennbar mit Annis erstem und bis letztes Jahr einzigem Aufenthalt im Krankenhaus verbunden.

Die chirurgische Station war schnell zu seinem Favoriten geworden, weil sie eine gemischte Patientenstruktur und einen regen Besucherstrom bot, der es ihm ermöglichte sich unauffällig unters Volk zu mischen, hier und da ein Schwätzchen zu halten und in der Sitzecke zu verweilen. An seinen Cafeteria-Tagen hatte er sich Skizzen gemacht, einen Grundriss des gesamten Gebäudes, mit Stationszimmern, Sitzecken und Toiletten. Das Wissen um die nächstgelegene Toilette hatte ihn schon so manches Mal gerettet, einmal sogar vor Schwester Hildegard, die ganz unplanmäßig auf der 32 auftauchte. Er hatte lange gewartet um sicherzugehen, dass sie weg war. Allein der Gedanke daran, ließ ihn wohlig erschaudern.

 

Ewald schlurfte im Bademantel, die Füße in seinen braunkarierten Filzpantoffeln, über den Krankenhausflur. Er wusste, dass dies die angemessene Art der Fortbewegung für einen Mann seines Alters war, aber er hätte tanzen können, so jung und beschwingt fühlte er sich. Er hatte es geschafft, er hatte eine Nacht unerkannt, sozusagen als blinder Patient, im Krankenhaus verbracht!

Mit Präzision hatte er alles geplant, alle Eventualitäten bedacht, nichts dem Zufall überlassen. Schade nur, dass er mit niemandem darüber sprechen konnte. Wie gerne hätte er Schwester Hildegards Gesicht gesehen, wenn sie von seiner Meisterleistung erfahren hätte. „Haha, du alte Nebelkrähe, so schnell wird man einen Ewald Naumann nicht los!“ Eigentlich sah sein Plan vor, dass er seine Plastiktüte aus dem Versteck in der Kapelle holen, sich in der Toilette umziehen und nach Hause fahren würde. Aber er spürte das drängende Verlangen zu bleiben, sein Abenteuer fortzusetzen, sich den Platz zu sichern, den er sich erobert hatte. In der Kapelle ließ Ewald sich auf einen Stuhl sinken. Er wollte kurz verschnaufen und Zwiesprache mit seiner Anni halten. Sie sollte wissen, was für ein Kämpfer auch heute noch in ihm steckte!

 

Ewald schlug die Augen auf und schloss sie direkt wieder. Blinzelnd versuchte er sich zu orientieren. Wo war er? Er hörte Stimmengemurmel und vernahm eilige Schritte auf dem Flur. Die Tür ging auf und er hörte, wie sie sagte: „Frau Demiglios hat mir Bescheid gesagt, nachdem sie ihn in der Kapelle gefunden hat. Seine Frau hat bei mir auf Station gelegen. Es ist ihm schwer gefallen sie gehen zu lassen und dann auch selbst zu gehen! Aber wir sind ja kein Altenheim!“

Ewald entschwand wieder ins Reich der Träume. Beim nächsten Erwachen schienen ihm die letzten Strahlen einer trägen Abendsonne ins Gesicht. „Na, endlich aufgewacht? Da werd ich mal die Schwester rufen“, krähte eine Altherrenstimme aus dem Nachbarbett. „Die sind ja alle wie verrückt wegen der Zeitung.“

Ehe Ewald sich versah, blinkte schon das rote Licht über der Tür auf und im Nu standen sie zu fünft um sein Bett herum. „Sie machen ja Sachen, Herr Naumann!“ Unter der Überschrift „Wer hat diesen Mann gesehen?“, entdeckte Ewald ein unscharfes Bild von sich selbst. Der kleine Artikel in den „Grafschafter Nachrichten“ klärte ihn darüber auf, dass der Postbote die Polizei benachrichtigt hatte nachdem sich die Post stapelte und niemand die Tür öffnete, obwohl im oberen Stockwerk Licht brannte und Musik zu hören war. Da niemand Informationen über den Aufenthalt von Herrn Ewald Naumann (84) geben konnte, wurden die Spuren im Haus als beunruhigend gewertet. Jeder der Hinweise auf den Mann geben könnte, der möglicherweise hilflos herumirre, möge sich bitte bei der örtlichen Polizeidienststelle melden.

Der junge Assistenzarzt faltete die Zeitung zusammen und schaute ihn freundlich interessiert – oder sollte er besser sagen: forschend? – an. Da öffnete sich die Zimmertür und sie trat an sein Bett. Schwester Hildegard. „Na, Herr Naumann, wie gut, dass ich sie im Auge behalten habe. Ich verspreche Ihnen, das werde ich auch weiterhin tun.“ Ein unergründliches Lächeln umspielte ihre Augen. „Da wollen wir uns mal schick machen für die Presse!“, sagte sie und zog einen Kamm aus ihrer Kitteltasche.

 

Anke Ridder

Anke Ridder
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