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Wir wohnten damals in der Seestraße, fast im Grünen, als unsere Tochter meinte, es sei an der Zeit, einen Hund in der Familie aufzunehmen. Ich sei schließlich Lehrer und müsse doch wissen, dass die Anschaffung eines Hundes die Entwicklung von Verantwortungsgefühl bei Kindern unterstütze und das sei pädagogisch sehr sinnvoll.

Ganz schön altklug, dachte ich, ist eben meine Tochter, dachte ich, sagte aber weiter nichts. Das war ein Fehler.

Leibniz, der Philosoph, soll einst gesagt haben: „Der Hund ist ein von Flöhen bewohnter Organismus, der bellt“, als er gefragt wurde, was er vom treusten Freund des Menschen halte. Wenn es nur das wäre, Flohpulver und ein Maulkorb würden sicher schnell Abhilfe schaffen. Aber meiner Erfahrung nach ist dieser Definition einiges hinzuzufügen, denn meine Frau und ich leben mit diesem Vierbeiner allein, seit unsere Tochter die elterliche Wohnung in Richtung Großstadt verlassen hat. „Wir hätten ihren Wunsch damals einfach sofort erfüllen müssen“, meinte meine Frau, „dann wäre uns dieses Schicksal erspart geblieben.“

Natürlich hat sie Recht, doch ich war damals fest davon überzeugt, unserer Tochter den Hund ausreden zu können und schlug ihr vor, stattdessen einen Goldfisch zu kaufen. Das hielt ich für einen cleveren Schachzug. Ein Tier ist ein Tier, dachte ich, ob es nun läuft oder schwimmt. Wir besuchten also eine Zoohandlung und sie trug überglücklich einen, wie die Fachleute sagen, Carrassius Auratus Auratus in einer Plastiktüte nach Hause. Ich hatte mich vorher erkundigt: Die Haltung war einfach, ein Exemplar konnte ohne großen Aufwand durch ein neues ersetzt werden, der Pflegeaufwand und vor allem die Kosten hielten sich in überschaubaren Grenzen.

Mit großer pädagogischer Geste richtete ich gemeinsam mit unserer Tochter ein Zuhause für das Fischchen ein. Dabei gab ich ausführliche Erklärungen ab, sprach mit ihr über seine Lebensbedingungen, natürlich auch über das hohe Maß an Verantwortung, das sie nun zu tragen habe.

Zwei Wochen später dümpelte der Carrassius Arratus Arratus regungslos und ziemlich tot im Wasser, vermutlich hatte ihn das dauernde im Kreis Schwimmen in dem gläsernen Behältnis zum Suizid getrieben. Ich empfahl sofort den Kauf eines Nachfolgers, doch meine Tochter weigerte sich vehement. „Man kann nicht einfach ein Lebewesen durch ein anderes ersetzen!“, rief sie empört. „Und überhaupt“, fügte sie hinzu, „und überhaupt will ich ein Tier zum Streicheln.“

Die Gefahr riechend, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen: „Nein, wir kaufen keinen Hund!“ „Dann will ich ein Kaninchen“, forderte sie.

Ahnungslos und wie ich heute zugeben muss, naiv, ließ ich mich darauf ein. „Es ist in Ordnung“, sagte ich beruhigend zu mir selbst, „ein Kaninchen in einem Stall im Gartenhäuschen ist nicht bei uns im Haus, es macht keine Geräusche und frisst nicht viel. Ein Langohr ist also kein Problem.“

Aber aus einem Kaninchen wurden zwei, denn meine Tochter war der Ansicht, eines sei einsam, das tue ihm nicht gut, wie man schließlich bei dem Goldfisch habe sehen können. Ich war einverstanden und wandte mich an einen Freund, dessen Kinder auch zwei dieser Mümmler besaßen. Er gab mir die Adresse eines Händlers.

„Es sind zwei süße Weibchen“, meinte der Fachmann, als ich sie bei ihm erwarb. Nur wenige Wochen später waren die beiden Weibchen Eltern von sieben Jungen. Ein biologisches Wunder? Sicher nicht. Ich überlegte ernsthaft, den Verkäufer zu verklagen oder ihm zumindest das Futter für den ungewollten Zuwachs in Rechnung zu stellen. Doch dann gab es eine, wie mir zunächst schien, unerwartet positive Wendung.

Eines Morgens ertönte ein Entsetzensschrei meiner Tochter aus dem Garten. Sie wollte gerade die so überraschend zustande gekommene Kaninchenfamilie füttern. Da sie jedoch am Abend zuvor die Käfigtür offengelassen hatte, waren alle Tiere entwichen und auf Nimmerwiedersehen in die Freiheit entschwunden. „Großartig“, dachte ich, „damit ist das Thema Haustier erledigt.“

Doch nur wenige Tage später geschah das Undenkbare, das nie Gewollte. Unsere Tochter zwang meine Frau und mich, zu einer Bauernfamilie zu fahren. Grund: ein Inserat in der Zeitung; Text: junge Jack-Russel-Terrier zu verkaufen. Für kleines Geld.“

Bis zum letzten Augenblick versuchte ich, den Besuch zu verhindern. Ich täuschte eine Erkältung vor, behauptete, wichtige Termine zu haben, beschrieb unter Verweis auf den schon eingangs zitierten Satz von Leibniz anschaulich Schreckensszenarien über Flöhe in menschlichen Wohnungen. Doch vergebens, wir fuhren nach Neugnadenfeld, unsere Tochter kannte leider keine Gnade.

„Sie wollen uns also das Raubtier abkaufen“, begrüßte uns der Bauer launig, als wir bei ihm auf den Hof vorfuhren und wies auf ein kleines braun-weißes Etwas in einem großen Karton.  Es passierte, was passieren musste. Die uns allen innewohnenden Bindungsverhaltensweisen brachen sich Bahn, das Kindchenschema (tollpatschige Bewegungen, große schwarze Knopfaugen) wirkte als Schlüsselreiz. Auch ich konnte mich nicht davon freimachen. Ich hörte, wie nicht nur meine Stimme sich gefühlt um vier Oktaven hob und einstimmte in einen dreistimmigen Begeisterungschor. „Oooh, wie niedlich!“ Meine Tochter: „Guck mal Papa, die süße Nase! Und wie der mit dem Schwanz wedelt.“ Ich, wieder halbwegs kontrolliert: „Hmm.“ Als es an mir war, den Welpen auf den Arm zu nehmen, unternahm ich einen letzten verzweifelten Versuch, den Kauf abzuwenden. Auf eine veritable Hundehaarallergie hoffend, rieb ich meine eigene Nase intensiv am Fell des Tieres. Es müssten sich doch tränende Augen provozieren lassen oder wenigstens ein Niesanfall. Aber mein Körper ließ sich zu keiner spontanen Abwehrreaktion hinreißen. „Von einer Allergie kann bei dir ja wohl keine Rede sein“, stellte meine Frau ungerührt fest, die meinen Plan sofort durchschaute. Unsere Tochter nutzte meine Lage gnadenlos aus: „Wir kaufen ihn, ja, Papa?“ Ich gab auf.

Seither befindet sich das Tier in unserem Haushalt.

Es ist ein Vierbeiner mit eigenartigen Gewohnheiten. Ich habe nie beklagt, wenn er sich als Welpe mal wieder in der Wohnung erleichterte, auch nicht, dass er bis heute meist dann zu bellen pflegt, wenn gerade am Fernsehen entscheidende Szenen laufen oder er wie eine Katze gelegentlich verschwindet, und wir zur Suche ausrücken müssen. Doch ich beklage sehr wohl, dass unsere Tochter, sein Besitzer immerhin, längst ausgezogen ist, und zwar ohne Hund. Angeblich sind in ihrer Wohnung keine Haustiere erlaubt.

Der Jack-Russel –Terrier, er heißt übrigens Gisbert, ist klein, aber arttypisch agil. Man kann ihn mit Fug und Recht als eine Hund gewordene ADHS-Störung bezeichnen. Das Tier ist immer in Bewegung, sucht Unterhaltung und wünscht permanente Ansprache. Vor allem dann, wenn ich genau das nicht wünsche. Sie werden vielleicht vermuten, ich sei zu empfindlich, aber ich werde Ihnen das Problem an einem Beispiel erläutern:

Wie schon erwähnt, bin ich Lehrer und damit Freund einer gleichbleibenden Tagesstruktur. Morgens Schule, nachmittags frei, zwischen Schule und frei halte ich gerne meinen Mittagsschlaf. Deshalb lassen Sie mich, bevor ich fortfahre, kurz auf das Wesen dieser wunderbaren Erfindung eingehen. Wie sagte doch schon der alte Bömmel aus Heinrich Spoerls Feuerzangenbowle: „Wo simmer denn dran? Ach ja, de Mittagsschlaf. Also, wat is en Mittagsschlaf? Da stelle mer uns janz dumm un da sajen wa so: En Mittagsschlaf is ene ruhige Zeit auf de Couch und wat is, wenn man zu lang schläft, dat krieje mer später.“

Man unterscheidet zunächst einmal den einfachen Mittagsschlaf vom besonderen. Der einfache ist der Mittagsschlaf, den der Lehrer an einem ganz normalen Diensttag hält, also im Normalfalle zwischen 13.00 Uhr und 14.00 Uhr, nach einem je nach Jahreszeit leichteren oder üppigeren Essen.

Ich spreche übrigens vom Diensttag, nicht Dienstag und schon gar nicht von einem Arbeitstag. Bekanntlich sind Lehrer Beamte, das heißt also, sie arbeiten nicht, sie  dienen.

Doch zurück zum Mittagsschlaf. Ich bette meinen Astralkörper in der Regel im Wohnzimmer auf die Couch und widme mich zunächst dem kurzen Studium intellektuell wenig herausfordernder Artikel aus dem Sport- oder Unterhaltungsteil der Zeitung, denn zu viel Konzentration vertreibt schnell die angenehme Müdigkeit. Hat sich diese eingestellt, gilt es die Postille – wichtig ist hier eine klassische Papierzeitung und keine Zeitungsapp auf einem Tablet oder Handy, um Verletzungen oder Sachschäden zu vermeiden – sanft aus den erschlaffenden Händen gleiten zu lassen und sich mit einem wohligen Seufzer auf die Schlafseite zu drehen. Zur Dauer des Mittagsschlafes möchte ich an dieser Stelle nicht Stellung nehmen, um Stigmatisierungsprozesse zu vermeiden. Zudem krieje ma dat Thema ja später (siehe Bömmel).

Der besondere Mittagsschlaf wiederum ist der Mittagsschlaf am Freitag. Der Lehrkraft ist bewusst, dass sie im Anschluss keine Dienstbesprechung, Konferenz oder gar Vorbereitungszeit am Schreibtisch hat, sondern sich übergangslos von der Couch an den Kaffeetisch begibt, um mit einem Stück Kuchen und wahlweise einer Tasse Kaffee oder Tee das wohlverdiente Wochenende einzuläuten.

Doch es gibt noch eine weitere Mittagsschlafvariante, ich nenne sie die Premiumvariante. Bei dieser handelt es sich um den schönsten Mittagsschlaf des Jahres, dem sich die Lehrkraft nach dem letzten Schultag vor den Sommerferien widmet. Ich weiß, es soll Kollegen geben – ich verzichte hier übrigens ganz bewusst auf die weibliche Form, denn Studien belegen, dass es in der Regel Männer sind – die bereits mit dem bepackten Campingmobil am letzten Schultag zu ihrer Bildungsanstalt fahren, doch zu denen gehöre ich nicht. Mir ist die Einhaltung meiner Tagesstruktur auch in den Sommerferien wichtig.

Aber zurück zu Gisbert. Ich wollte Ihnen erläutern, wie es dem Jack-Russel-Terrier immer wieder gelingt, meinen Tagesrhythmus durcheinanderzubringen. So gefällt es dem Tier, immer dann, wenn das wohlige Müdigkeitsgefühl mir sanft die Augen geschlossen hat, durch verspieltes Bellen und Knurren auf sich aufmerksam zu machen.

Sehr gerne vollführt es auf Jack-Russel-Manier Sprünge vor der Couch, die eine gewisse Signalwirkung haben. Das Signal lautet: Ich will spielen. Wohl oder übel muss ich aufstehen, die Müdigkeit ist einer Mischung aus Verärgerung und Selbstmitleid gewichen, denn der Hund zwingt mich zu seiner Lieblingsbeschäftigung: Die Terrassentür zu öffnen und den gelben Gummiball in den Garten zu werfen, den er mit wachsender Ausdauer zurückholt. Jetzt vermuten Sie sicher, dass er ihn  vor mich hinlegt und mich auffordert, ihn zu ergreifen. Weit gefehlt. Er holt den Ball, ja, legt ihn mir auch zu Füßen, ja, doch sobald ich mich bücke, um ihn aufzuheben, schnappt er zu und das Spielzeug  befindet sich wieder in seinem Maul. Schließe ich dann die Terrassentür, kratzt er an der Scheibe, legt den Ball erneut auf den Boden und fordert mich ein weiteres Mal auf, den Zugang zu öffnen.  Sie ahnen, was dann passiert. Sobald ich die Tür öffne und mich nach dem Ball bücke, springt er blitzschnell heran und schnappt erneut nach seinem Spielzeug. So entsteht eine Endlosschleife, die mich zur Verzweiflung treibt, besser gesagt, so wach macht, dass an Mittagsschlaf nicht mehr zu denken ist.

Was folgt, ist ein Ritual. Ich lade Gisbert zur nachmittäglichen Geschäftsreise ein, die einzige Möglichkeit sein Verhalten zu verändern.  Dazu benötige ich eine kleine Tüte, eine Leine und die Bereitschaft, den Hund zu tragen, wenn er nach dem Ballspiel zu erschöpft für einen Spaziergang ist.  Dann kommt es darauf an, den Hund an passender Stelle zur Erledigung seines Geschäftes abzusetzen.

Erst danach setzt Entspannung ein, Zeit, am Schreibtisch ungestört den Unterricht für den kommenden Tag vorzubereiten, während hinter mir jemand selig in seinem Körbchen liegt und … schnarcht.  

Mathias Meyer-Langenhoff
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