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Als der letzte Patient für heute mein Sprechzimmer betrat, beschlich mich ein ungutes Gefühl und die Ahnung, dass ich mal wieder zu spät ins Krankenhaus käme.  Natürlich ließ ich mir von meinen Gedanken nichts anmerken, sondern faltete meine Hände auf dem Schreibtisch und beugte mich leicht vor:

„Mister Twelve, was kann ich für Sie tun?“

Der Monitor zu meiner Linken zeigte mir Mr Twelve als neuen Patienten.  Als einziger Eintrag zu seiner Person stand der heutige Termin auf dem Display und darunter eine Reihe von Fragen zu Vor- und chronischen Erkrankungen, die jedem neuen Patienten gestellt werden sollten. Das war reine Routine und hatte in den meisten Fällen gar keine Relevanz für die aktuelle Diagnose.Wie immer würde ich sie selbst beantworten. Das sparte Zeit.

Denn ich wollte so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Dort wartete ein neuer Dienstplan auf mich und ich war gespannt, ob ich endlich für eine Operation zugelassen worden war.

Mein Gegenüber trug ein schäbiges Tweedjackett mit braunem Karomuster und Wollklümpchen an den Ellenbogen, die sich wie Zecken daran festhielten.  Er stützte die Ellbogen auf die Stuhllehnen und in Gedanken sah ich die Zecken platzen und kleine Blutstropfen nach allen Seiten verspritzen.

Ich maßregelte mich und zwang mich, zuzuhören, was der Patient erzählte. Seinem Aussehen nach tippte ich auf Burnout und war schon versucht, dieses in meinen Computer zu tippen, als Mister Twelves Worte mich aufmerken ließen.

„Es geht um Mausmenschen. Kennen Sie den Mond?“

Himmel, kommen Sie auf den Punkt, dachte ich. Doch äußerlich blieb ich gelassen. Ich räusperte mich nur und sah ihn über meine Brille hinweg prüfend an.

„Es ist Neumond“, sagt der Hagere. „Meine Geschichte dauert länger. Haben Sie Zeit?“

´Auch das noch!´, jaulte ich innerlich auf. ´Nein, ich habe keine Zeit, in fünf Minuten steht fest, wer operieren darf und ob ich es bin. Und falls ich es bin, aber zu spät in die Klinik komme, wird Pelzner operieren dürfen!´.

Und weiter rasten meine Gedanken:

Wenn ich den Patienten jetzt aber wegschickte, und er sich über mich beschwerte, wäre ich obendrein noch die Krankenhauspraxis los, in der ich gerade meine Zeit verschwendete. Auf diese Praxis war Pelzner schon lange scharf. Mir wurde schon schlecht, wenn ich diesen Namen nur dachte.

Ich musste Twelve also reden lassen und, sobald sich eine Gesprächslücke ergab, ihm mit meiner fertigen Diagnose in die Parade fahren.

„Ich habe Zeit“, sagte ich und setzte noch eins drauf. „Dafür bin ich ja da.“ Haha, der war gut!

Twelve sah mich aus bernsteingelben Augen eindringlich an. Verwundert stellte ich fest, dass ich plötzlich wirklich wissen wollte, was er zu erzählen hatte.

„Kennen Sie sie, die grauen Mäuse?“, fing er an und beugte sich nun seinerseits vor. „ Oder anders gefragt: Haben Sie eine Menschenmenge schon einmal daraufhin beleuchtet, ob sich eine graue Maus darunter befindet? Nein? Nun, es ist einfach. Setzen Sie sich zum Beispiel in einen  Bus, zur Stoßzeit und schauen Sie sich die Mitreisenden an.

Ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, das sich unter den Mitreisenden immer bestimmte Typen befinden: der korpulente Mann, der mit verschränkten Fingern auf seinem Sitz hockt, als wirke bei ihm die Erdanziehung doppelt so stark. Da hinten, die Frau mittleren Alters, die jeden Tag hart für ihren Mann, der zu Hause hockt, und ihre vernachlässigten  Kinder, die den ganzen Nachmittag auf dem Spielplatz herumlungern, arbeitet. Drei Bänke hinter ihr die blonde Frau mit dem Kleinkind im pinkfarbenen Kinderwagen, an der anderen Seite der Jugendliche mit den getunnelten Ohren, der, verkabelt mit seinem Handy, illegale Songs herunterlädt. Hinter ihm der Banker im maßgeschneiderten Anzug, der sich in Gedanken von diesem trivialen Ort weg beamt und den Bus nur nutzt, weil er so vorgibt, mit seiner Kundschaft auf einer Welle zu schwimmen.

Wenn Sie glauben, alle Leute im Zugabteil registriert zu haben, schauen Sie weg.

Aus dem Fenster vielleicht, hinter dem die Landschaft vorüberzieht oder auf die Anzeige, die über dem Busfahrer leuchtet. Konzentrieren Sie sich einfach auf das, was Sie sehen.

Und dann wenden Sie ihren Blick wieder zurück in das Abteil.

Jetzt werden Sie sie sehen: die graue Maus. Sie steht meistens bereits im Ausstieg, bis sie Ihnen  auffällt. Sie trägt eine Stoffhose in beige oder grau, einen Pullover, dessen Farbe unter der geschlossenen  Jacke nicht zu erkennen ist. Unwillkürlich fragen sie sich: Warum sehe ich ihn jetzt erst, den grauen Mausmenschen? Ja, warum ?

Und noch ein Warum: Weshalb erzähle ich ihnen das alles?

Ich will es Ihnen sagen:  Damit Ihnen klar wird, was Sie selbst täglich erleben, nämlich dass sich Tiere in Menschen und Menschen in Tiere verwandeln. Hier, mitten unter uns. Damit Sie mir glauben, wenn ich Ihnen gleich meine Geschichte erzähle, damit wir miteinander ins Geschäft kommen können.  “

Gebannt saß ich in meinem Arztsessel, und obwohl der Patientenstuhl niedriger war, worauf meine Sprechstundenhilfe Marcy mit dem süßesten Apfelhintern der Welt achtete, spürte ich, dass Mister Twelve das Gespräch führte, und das in einem Maße, dass ich vergaß, weshalb er hier war. Es ging irgendwie um Burnout, oder?

Was er erzählte, hörte sich in keiner Weise nach Burnout an.

„Meiner Frau erzähle ich, ich arbeite an einem Mondkalender.  Ich bin von Beruf Journalist. Das Schöne daran ist, dass sich in diesen Beruf alles hineinpacken lässt, was einem interessant erscheint. Also Projekt Mondkalender:

Allen Tätigkeiten sind darin Mondphasen zugeordnet, an denen das Tun von Erfolg gekrönt sein wird.

Es gibt sogar Diäten, die sich nach dem Mond richten. Dabei wird glaubhaft geschildert, dass es keinen Sinn macht, bei zunehmendem Mond eine Diät zu beginnen, da dann das Wasser im Körper stärker gebunden wird und damit auch das Fett.  Nimmt der Mond aber ab, wirkt sich das auch positiv auf die Diät aus. Meine Frau ist ganz begeistert von dieser Theorie. Nebenbei – bei ihr wirkt sie.“ Mister Twelve zuckte mit den Schultern. „Ich erzählte ihr, dass mein Verlag mich beauftragt hätte, Feldforschungen vorzunehmen. Und jetzt meine Frage:

Kennen Sie den Mond? Wissen Sie, wie es ist, barfuß bei Vollmond über ein frisch gepflügtes Feld zu laufen? Das einzige Gewand das silberne Licht der prallen Kugel, die das Licht der Sterne in sich aufsaugt und als eigenes abstrahlt auf die Geschöpfe der Nacht?“

Ich konnte ihm nicht mehr folgen, meinte aber, das Gefühl zu kennen. War ich schon einmal barfuß über ein Feld gelaufen? In einem früheren Leben vielleicht? Ich schüttelte unmerklich den Kopf.

„Nicht“, sagte Mr Twelve knapp. „Sie sind keiner, was?“

Ich hob die Augenbrauen und verstand kein Wort mehr.

„Okay, ich muss wohl Farbe bekennen, sonst werden wir hier nie fertig.“

Bei seinen letzten Worten machte sich Erleichterung in mir breit. Doch dann erzählte er mir die unglaublichste Geschichte, die ich jemals gehört hatte. Und ich witterte meine Chance.

Wir kamen miteinander ins Geschäft, Mister Twelve und ich. Endlich war ich am Ziel und hatte die Möglichkeit, zu operieren. Mr Twelve lieferte mir Mausmenschen, und er bekam dafür seinen Teil von ihnen. Nun ja, Sie haben es vielleicht schon erraten: Mr Twelve war ein Werwolf.

Als er zu mir kam, war gerade Neumond und dementsprechend schlecht ging es ihm. Erst mit der zunehmenden Rundung des Mondes fühlte auch er sich wieder stärker. Sein Grundproblem Bedürfnis nach menschlichem Fleisch.

Mr Twelve hatte mir geschildert, wie er Schafe, Kaninchen, einmal sogar eine Katze riss, dass dieses Fleisch aber nicht reichte, da er Menschenfleisch brauchte. Er litt stark unter diesem Verlangen, und selbst als Werwolf empfand er Mitleid mit den Geschöpfen, die er riss. Doch der Werwolftrieb war so stark, dass er auf mich gekommen war, einen angehenden Chirurgen, der praktische Erfahrungen sammeln musste

Schon für die nächste Woche waren wir verabredet.

Abends zum Schichtwechsel war die Gelegenheit günstig, Mausmenschen hereinzuschmuggeln. Sie folgten Mr Twelve willig, denn seine hypnotische Kraft besaß er auch in Menschengestalt. Und die machten wir uns zu nutze.

Ich studierte die Belegung der Operationssäle.

Sie zu benutzen war kein Problem, schließlich besaß ich einen Generalschlüssel und war bekannt für meine Marotte, Operationenn an eingebildeten Patienten nachzustellen. Dazu legte ich alle Instrumente bereit, sprach mit der unsichtbaren Schwester, ließ sie in Gedanken antworten und mir den Schweiß von der Stirn tupfen. Ich schnitt, zupfte und nähte nach Herzenslust, verpflanzte Lungen, Herzen und sogar ganze Beine, und nachts in meinen Träumen dankten mir die Patienten unter Tränen, dass ich ihnen ein zweites Leben geschenkt hätte.

An besagtem Abend empfing ich Mr Twelve mit Handschlag an der Eingangstür des Krankenhauses. Neben ihm ging ein verwahrloster älterer Herr mit höchst aktiven Schweißdrüsen. Mr Twelve stellte ihn als „Mr. Mouse 1“ vor. Der echte Name täte nichts zur Sache.

Wir betraten den Operationssaal. Während ich Mr Mouse 1 wog und seinen Kreislauf maß, erzählte mir dieser, dass er unter Blinddarmschmerzen litt, aber auch darunter, keine Krankenversicherung zu haben. Der nette Mr Twelve habe ihm erzählt, dass das hier kein Problem sei. Bescheiden schloss ich die Augen und nickte.

„Wir helfen Ihenen. Dafür sind wir ja hier.“ Und mir juckte es in den Fingern, nachzuschauen, wie es in seinem übrigen Bauchraum aussah. „Ein Blinddarm also.“

Mr Twelve zuckte die Schultern: „Nicht grad viel, aber besser als nichts.“

Als ich die Narkose verabreichen wollte, hielt Mr Twelve mich am Ärmel meines Arztkittels fest. „Das brauchen wir nicht. Lassen Sie mich das machen.“ Erstaunt blickte ich von dem Patienten, der unter einem grünen Tuch auf dem Operationstisch lag, auf.

Mr Twelve beugte sich über den Patienten und nahm seine Hand. „Schauen Sie mal, was sich da auf dem Grund meiner Pupillen bewegt. Auf und ab, auf und ab, auf und ab …“ leierte er, bis sich die Lider des Patienten senkten und er scheinbar schlief. Während er mit dem Singsang fortfuhr, warf er einen raschen Blick auf mich, bevor er wieder auf den Patienten schaute. „Schnipp und schnapp, schnipp und schnapp, …“ , forderte er mich mit einer rudernden Handbewegung auf, mit der Operation zu beginnen.

Ich piekste leicht mit dem Skalpell in den Unterleib des Patienten, aber der rührte sich nicht. Mutiger führte ich einen kleinen Schnitt durch und tupfte das Blut ab. Der Patient lag da wie tot, aber an den Instrumenten sah ich, dass Sauerstoffsättigung und Herzschlag stabil waren.

Ich entnahm den Blinddarm, der so dunkelrot wie ein frisch gefangener Regenwurm aussah, und hielt ihn Mr Twelve hin.

„Nicht grad viel,“ sagte er. „Vielleicht haben wir bei dem nächsten Patienten mehr Glück. Schauen Sie doch mal, ob er vielleicht Nasenpolypen hat. Er schnarcht ja wie ein Bär.“

Er hatte, und stolz präsentierte ich das Ergebnis. Als ich die Bauchwunde vernäht hatte, wollte ich mir die Hände waschen, aber Mr Twelve hielt mich zurück.

„Geben sie mir mal kurz das Skalpell“, bat er mich und ich reichte es ihm. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog er es sich über den Daumenballen. Das Blut tropfte. Er hielt die Hand über die frische Narbe des Patienten.

Und hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich würde es nicht glauben: Augenblicklich verschloss sich die Wunde. Als liefe ein Film rückwärts, verschwanden zuerst die Fäden, dann die Naht, dann glättete sich die Haut und vor mir lag ein Unterleib, faltenfrei weiß und jungfräulich. Staunend schaute ich auf Mr Twelve: „Das ist ja … – famos!“

Er lächelte und streckte seine Hand aus:

„Auf gute Zusammenarbeit.“ Ich schlug ein.

 

Wochen gingen ins Land, und wir waren mit unserer Arbeit sehr zufrieden. Mr Twelve brachte Mausmenschen, und auch ich entwickelte ein Gespür für diejenigen, die für uns als Patienten in Frage kamen. Wir begannen, eine eigene Datenbank anzulegen mit den Blutwerten unserer Patienten und fragten sie, ob sie sich eventuell als Organspender zur Verfügung stellen würden. Aus Dankbarkeit uns gegenüber stimmten sie zu und ich betete, dass sich bald eine Gelegenheit ergäbe, mein Können auf dem Gebiet der Transplantation zu beweisen. Mr Twelves Schaden sollte das nicht sein, verloren die Patienten doch viel Blut, das wir auffingen und einfroren zum Verzehr beim nächsten Vollmond.

Wir wurden Stadtgespräch. Da ich offiziell bislang nur Mandeln entfernt hatte, waren meine Frau und mein Chef erstaunt darüber, dass diese Standardoperationen für so viel Furore sorgten.  Mein Chefarzt wurde hellhörig, und bei der nächsten Bauchraumoperation – ein künstlicher Ausgang wurde gelegt – schob er den übereifrigen Pelzner nach hinten und reichte mir das Skalpell. „Übernehmen Sie bitte.“

Hocherfreut nahm ich das Skalpell. Mittlerweile war für mich nichts einfacher als Operationen im Bauchraum. Der einzige Punkt, bei dem ich ins Schleudern kam, war die Sache mit dem Blutverlust. Ich wies den Assistenzarzt (in diesem Fall Pelzner, hihi) an, das Blut in Ein-Liter-Gefrierbeuteln aufzufangen. Erst, als ich den erstaunten Blick meiner Kollegen sah, korrigierte ich mich rasch und sagte:

„Kleiner Scherz. Wie immer, natürlich.“

Ich musste mich unbedingt erkundigen, was mit dem Blut bei ´wie immer´ geschah.

Pelzner, der bei dieser Operation die Narkose verabreichte, irritierte mich mit seinen ständigen Zahlen zu Herz- und Atemfrequenz, die er in den Raum warf wie die Lottofee. Wie viel einfacher war es doch, mit Mr Twelve zu arbeiten.

Nach der gelungenen Operation rief mich mein Chefarzt, noch mit Mundschutz, zu sich.

„Sehr gute Arbeit, Herr Kollege. Diese Routine, die sie an den Tag legen, ist erstaunlich. Wirklich erstaunlich.“

Ich schüttelte seine Hand und bescheiden den Kopf: „Bei so einem Lehrer!“, trug ich etwas dicke auf, aber nur, weil Pelzner in der Nähe stand und jedes Wort mithörte.

Von meinem jetzigen Standpunkt aus erscheint es mir unvermeidlich, was dann geschah.

Ein wunderbares Jahr lang schwebte ich von Operation zu Operation, an Privat-, Kassen- und Mauspatienten. Mr Twelve war ebenfalls selig. Seine Gelüste nach menschlichem Fleisch wurden befriedigt, und der Umfang seines Mondkalenders wuchs, da er tatsächlich Zeit hatte, sich mit dem Mond und dem Einfluss auf Pflanze, Tier und Mensch auseinanderzusetzen. Nach wie vor schob er bei Vollmond Geschäftsreisen vor, tatsächlich hielt er sich hinter dem Krankenhaus auf, wo ich ihm seine Rationen gab, die ich sorgfältig in einer Liste abhakte. Zwischen uns entwickelte sich eine Freundschaft, die so tief ging, dass ich mich eines Abends beim Sterilisieren der Instrumente traute, die entscheidende Frage zu stellen. „Wann wurden Sie gebissen? Und wo?“

Mr Twelve schaute mich schweigend an und schüttelte den Kopf.

„Gar nicht“, antwortete er. „Deshalb konnte ich es selbst kaum glauben, was mit mir geschah. Fakt ist, ich ging in meinen Garten, um eine Zigarette zu rauchen. Bei Vollmond, natürlich“, grinste er. „So etwas wie ich erlebt man nur bei Vollmond.

Mein Vorgarten ist klein; eine Rasenfläche, in der im Frühjahr ein paar Krokusse sprießen, eine kleine Rabatte mit Primeln oder Heide, je nach Jahreszeit und Rosen, die sich um das Gartentor ranken, durch den wir den Garten betreten und um die sich meine Frau hingebungsvoll kümmert.  Als ich breitbeinig auf dem Rasen stand, eine Hand in der Hosentasche, in der naderen die Zigarette, fiel mein Blick auf einen dunklen Streifen, der auf dem Rasen lag. Verwundert hob ich ihn auf und wollte ihn auf den Gehweg schleudern, in der Erwartung, dass es sich um Müll handelte. Aber zu meiner Überraschung fühlte es sich angenehm warm an.  Ich nahm einen tiefen Zug aus meiner Zigarette und trat mit meinem Fund ins Licht unserer Außenbeleuchtung. Es war ein Fellgürtel, braun, grau oder schwarz, auf jeden Fall dunkel. So genau konnte ich das im matten Schein der Lampe nicht erkennen. Statt einer Schließe hatte er an der einen Seite einen Schlitz, auf der anderen einen Holzknopf. Ich ließ ihn durch die Hände gleiten und sah, dass er recht lang war. Meine Taille ist nicht sehr schmal, und deshalb reizte es mich, auszuprobieren, ob er mir passte.

Aus dem Licht trat ich auf den schattigen Rasen. Ich wollte Fragen oder Bemerkungen von zufälligen Passanten vermeiden. Vielleicht hätte man mich auch für einen Exhibitionisten gehalten, der draußen mit seinem Gürtel herumhantiert und sich grade auf den Weg macht.

Ich legte ihn mir des Spaßes halber um, aber er war zu eng. Allerdings trug ich zu meiner Jeans, die ja an sich schon einen dicken Bund hat, als Oberbekleidung ein Unterhemd, ein T-Shirt und einen Strickpullover. Also schob ich zuerst den Strickpullover hoch.  Es fehlte immer noch ein Tick. Okay, also klemmte ich mir den Strickpullover und das T-Shirt unter das Kinn und versuchte, den Gürtel durch die Jeansösen zu fädeln, aber in dem Moment kam Pency, mein Nachbar, um die Ecke, der seinen Hund Gassi führte. Schnell hob ich das Kinn, zog das T-Shirt herunter und grüßte freundlich, als sei nichts gewesen. Aber kaum verschwand er um die Ecke, wollte ich es wissen: ich riss die Kleidungsstücke hoch und legte mir den Gürtel um den Bauch.

In diesem Moment tauchte der volle Mond den Rasen in weißblaues Licht wie eine Bühne, und der Gürtel schmiegte sich an meinen käsigen Bauch, als sei das der Ort, wo er schon immer hatte sein wollen. Erleichtert atmete ich ein. Er passte wie angegossen. Sachte strich ich über das Fell, das ihn bedeckte, und ein Kribbeln lief durch meinen ganzen Körper.

Ein Gefühl der Befreiung erfasste mich, ich schaute in den hellen Mond, und reine Lebensfreude rann durch meine Adern, feuerte das Sonnensystem in meinem Bauch an, und ich sprang auf das rosenumrankte Tor und heulte vor Freude.

Mit emporgereckten Händen stürzte meine Frau in den Garten und zuerst dachte ich tatsächlich, sie würde meine Freude teilen, aber sie rief nur scharf meinen Vornamen. Ich kam zu mir und registrierte, wo ich saß. Schnell wie der Blitz war ich wieder auf dem Rasen, aber statt Erleichterung sah ich in den Augen meiner Frau nur Entsetzen.

„Hast du getrunken?“ fragte sie. „Was hast du oben auf dem Rosenbogen gemacht?“

„Nur acht Wachtmeister, Herr Jägermeister“, witzelte ich, um sie zu beruhigen. Dann nahm ich sie in den Arm. „Nein, hab ich nicht. Aber sieh dir mal den Mond an. Von solch einer klaren Nacht kann man sich schon mal hinreißen lassen, oder?“

„Du ewiger Romantiker“, schüttelte sie den Kopf. „Wann wirst du bloß erwachsen?“

Ich folgte ihr ins Haus und war in meinem Innersten entsetzt, aber auch fasziniert über den Vorfall. Ich, ein Mann von fast hundert Kilogramm, schwang sich mal so eben auf den Rosenbogen?

Aus dem Schlafzimmerfenster schaute ich in den Himmel. Der Mond zwinkerte mir zu und ich rieb mir die Augen. Dann faltete ich die Hände über den Bauch und spürte eine Wölbung. Ich trug ja immer noch den Gürtel.

Ich griff mir in den Nacken und zog meine Oberteile aus, alle drei auf einmal. Dann nestelte ich an dem Holzknopf, und zwar so vehement, dass er abfiel. Panisch versuchte ich, den Finger in das Knopfloch zu stecken, aber zu meinem Erstaunen war da kein Loch mehr. Wie bei einer Tesafilmrolle, bei der man den Anfang sucht, strich ich suchend über den Gürtel.  Vergebens. Ich versuchte, seine Ränder anzuheben, aber ohne Erfolg. Er war mit meiner Haut verschmolzen. Als ich das Fell noch am gleichen Abend vom Gürtel abrasierte, blieb ein stoppeliger Hautstreifen, zwei Nuancen dunkler als meine eigene Haut, zurück.

Meine Frau schob die Stoppeln auf die Hormonumstellung der männlichen Wechseljahre, und ich verdrängte ihn.

Nach dem ersten Vollmond als Werwolf recherchierte ich im Internet und fand schnell heraus, dass in alten Sagen immer wieder von einem Wolfsgürtel berichtet wird, den man im Tausch für seine Seele vom Teufel bekommt.  Ich habe keinen Deal mit dem Teufel, aber einen Gürtel, der mich zum Werwolf macht. Ohne gebissen worden zu sein.“, schloss Mr Twelve seine Geschichte.

 

Es war ein sonniger Montagmorgen. Ich schlenderte  fröhlich pfeifend zum Krankenhaus. Zwei Operationen standen an: eine Herz-Lungen-Transplantation sowie eine Niere. In Gedanken spielte ich immer wieder die Abläufe durch. Ein Hubschrauber würde die Organe bei blitzeblauem Himmel pünktlich einfliegen, die Patienten würden sich der Operation hingeben, schwankend zwischen Hoffnung und Todesangst, und ich wäre der Star im gleißenden Scheinwerferlicht  des steril gefliesten Raumes.

Wie immer schaute ich zuerst in meiner Praxis vorbei. Zu meiner Überraschung saß Pelzner auf meinem Stuhl, an meinem Computer, und meine Sprechstundenhilfe Marcy-mit-dem-süßesten-Apfelhintern-der-Welt dirigierte ihn mit rotem Fingernagel durch die Galaxien meines PCs. Als sie mich sah, lief sie rot an und rief: „Das hätte ich nie von ihnen gedacht“, und mit gekonntem Hüftschwung verließ sie das Zimmer.

Fragend schaute ich Pelzner an: „Was machen sie da auf meinem Platz?“

„Die Frage ist wohl“, antwortete er mit süffisantem Lächeln, „was machen Sie an Ihrem Platz? Illegalen Organhandel, wie es scheint. Ich hab hier eine Liste.Schleierhaft ist mir nur, warum sie Blut einfrieren. Die Zellen platzen doch und sind nach dem Auftauen unbrauchbar. Und hier“, er wies auf den Monitor, „vier Nieren, drei Lebern. Interessant. Und hier: Blinddärme. Einfrieren? Zum Verpflanzen?  Ich muss schon sagen, sehr extravagant.“

Glauben Sie mir, in diesem Moment konnte ich nichts sagen. In mir tobte ein Gefühlssturm zwischen Empörung, Stolz, Scham und Enttäuschung über Apfelbäckchens Verrat. Mit Sicherheit aber wusste ich eines: Pelzner würde nicht eher ruhen, bis er hinter mein Geheimnis gekommen wäre.

In mir keimte eine Idee.

 

Wieder war es Neumond. Mr. Twelve betrat, zuverlässig wie immer, mit einem Mausmenschen den OP und stutzte, als er Pelzner sah

„Nein, nein, alles in Ordnung. Nur ein Kollege, der sich für unser Treiben interessiert“, lächelte ich und kniff, unsichtbar für Pelzner, ein Auge zu. Mr Twelve zuckte nur kurz mit der Augenbraue, ansonsten ließ er sich nichts anmerken. „Ich muss Sie kurz unter vier Augen sprechen. Mr. Pelzner, Sie entschuldigen uns kurz?“ Wir gingen auf den Flur und ich setzte Mr. Twelve von meinem Vorhaben in Kenntnis.

Zurük im Operationssaal blickte Mr Twelve Pelzner tief in die Augen, bis dieser sich auf den Operationstisch legte. Mr Twelve legte sich auf den anderen und ich machte mich unverzüglich an die Arbeit. Sie dauerte die ganze Nacht, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Das Entfernen des Wolfsgürtels war aufwändig, aber als Pelzner ihn sich nach einem tiefen Blick in Mr. Twelves Augen selbst umlegte, wuchs er unverzüglich an.

 

Seitdem arbeiten Pelzner und  ich als angesehenes Chirurgenteam zusammen. Er ist zuständig für die Anästhesie und bekommt seinen Anteil wie vordem Mr Twelve.  Mausmenschen brauchen wir nicht mehr, wir können frei agieren.

Neulich kaufte ich mir den Mondkalender für das nächste Jahr. Ich glaube, dass wird der letzte sein, den Mr Twelve herausgegeben hat.

 

Sabine Jacob
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