Lesezeit: 4 Minuten

Sie schob die Krümel, die vom Frühstück übrig geblieben waren, in der Mitte des Tisches zusammen. Gedankenverloren starrte sie auf das Häuflein. So viele Brösel. Ihr kam es vor, als seien sie das Abbild ihres Lebens. Über zwanzig Jahre lang lebte sie nun mit ihm zusammen.

Nein, sie waren nicht verheiratet, natürlich nicht. Das hätte nicht zu seinem Selbstverständnis als Künstler gepasst. Seiner Ansicht nach, und das war damals – natürlich- auch ihre Ansicht, waren alle Konventionen als Spießbürgerlichkeit zu verabscheuen. Wie sehr hatte sie ihn damals dafür bewundert! Sie hatte es geliebt, wenn er mit großer Geste von seinen geradezu orgiastischen Erlebnissen während seines Schaffens erzählte. Natürlich nicht ihr, aber seinen Künstlerfreunden und Mäzenen oder eben allen, die es hören wollten. Seine Hände untermalten weit schweifend seine Worte, während sein verklärter Blick in Sphären weilte, in die ihm seine Zuhörer häufig nicht folgen konnten. Und seine Sätze beendete er gerne mit den Worten: `Ne pas`, womit er seine Bildung kundtat. Sie selbst hatte lange gebraucht, um zu verstehen, was dieses „ne pas`, was sich für sie anhörte wie ein sinnloses „näppa“, bedeuten sollte.

Sie erinnerte sich an die Zeit,  als sie das Kind wollte! Oh nein, er brauchte alle seine Energien für die Kunst. Allein die Vorstellung sei absurd, befand er, seinen Sinn auf ein unvollständiges Lebewesen zu lenken oder gar Exkremente  in seiner näheren Umgebung vorzufinden. Ihm zu Liebe hatte sie das Kind geopfert und nie wieder einen Kinderwunsch geäußert.

Stattdessen war sie arbeiten gegangen. Im Supermarkt zeichnete sie Waren aus. So konnte sie ihre Zeit frei einteilen und da sein, wenn er sie brauchte.

Also war sie es, die dafür sorgte, dass die nötigsten finanziellen Mittel zur Verfügung standen. Schade, dass sie ihm nie von ihrer Arbeit erzählen konnte. Es langweilte ihn maßlos. Sobald sie den Versuch wagte, starrte er sie mit schlaffer Mundpartie und hochgezogenen Brauen an und kommentierte jeden Satz mit: „Und dann?“, bis sie aufgab, da ihr klar wurde: Sie hatte nicht wirklich etwas zu erzählen.

Im Laufe der Jahre ging ihr auf, dass es nicht viele Menschen gab, die ihn tatsächlich hören wollten. Sie bemerkte, dass es immer weniger Leute gab, die ihm aus echtem Interesse zuhörten. Es kristallisierten sich zwei Gruppen heraus: die eine wollte über ihn Beziehungen knüpfen, und die anderen sahen im Moment keine Chance, ihm räumlich auszuweichen oder andere notwendige Tätigkeiten vorzuschieben.

Das bemerkte sie, er aber nicht. Er war überzeugt von seinem Genie, seiner Schaffenskraft. Seit ungefähr zehn Jahren hatte er sich darauf spezialisiert, Aktzeichnungen junger Mädchen anzufertigen. Die weiblichen Kurven, noch unangegriffen durch Schwangerschaft oder hormonelle Desaster, die bezaubernde Unschuld verleiteten ihn zu der Idee, er sei es, der das Lächeln der Mona Lisa aufleben lassen könne.

Das Lächeln der Mona Lisa, um Gottes Willen! Sie fegte die Krümel vom Tisch.

Warum malte er nicht sie? Auch ihr Körper hatte keine Schwangerschaft durchgemacht! Gerade eben hatte sie ihm diesen – für sie unerhörten – Vorschlag gemacht. Mit dem bekannten Gesichtsausdruck- die Unterlippe feucht hängend, die Brauen hochgezogen- hatte er gesagt: „Und dann?“ Aber er hatte noch mehr gesagt. Nach einer kleinen Pause verengte er seine Augen zu Schlitzen und fügte mit boshaftem Blick hinzu: „Warum sollte ich plötzlich meinen Stil ändern und auf Ästhetik verzichten, ne pas?“ Sie hatte schnell nach unten geblickt und sich abgewandt. Es waren nicht die Tränen, die sie verbergen wollte. Es war der Hass, der sich aufbäumte wie eine Gebärende in den Wehen. „Du Schwein!“ dachte sie. Sie trat auf die am Boden liegenden Krümel und zermalmte sie.

Heute hatte sie noch viel zu tun, denn am Samstag war die Vernissage.

„Meine Damen und Herren,

ich präsentiere Ihnen heute mein Lebenswerk! Ich befinde mich auf dem Olymp, den ich aus eigener Kraft erstiegen habe. Das sind die Hände, die schöpferisch tätig sind, und dass ist der Kopf, der dazugehört. Aber ohne das Herz, dessen starkes Schlagen mich bewegt, der Welt Schätze von unvorstellbarem Wert zu hinterlassen, von makelloser Schönheit, dass alles macht diesen Tag so denkwürdig. Ich bitte, meine Werke auf Fingerzeig zu enthüllen.“

Sie hörte ihn, wie er vor dem Spiegel seine Eröffnungsrede probte. Fehlte nur noch die Toga, und er konnte als Karikatur des narzisstischen römischen Kaisers Nero, durchgehen. Ein hämisches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie sich Kleberreste von den Fingern bürstete. Die Reste ihrer Schnipselei hatte sie schon vorher beseitigt.

Die Gallerie war für die Vernisage umgestaltet und Bilder platziert und umgestellt  worden. Außer einer sorgsamen Beleuchtung gab es keine Dekoration. Lediglich einige Stehtische sorgten für die Bequemlichkeit der geladenen Gäste.

Neununddreißig Werke befanden sich in der Ausstellung, zum Teil eingeflogen aus privaten Sammlungen. Er hatte sich entschlossen, sie alle zu verhüllen, als seien sie neu.

An jedem Bild stand eine barbusige junge Frau, und wartete auf seinen Fingerzeig, um die Kordel zu ziehen und das jeweilige Bild enthüllen zu dürfen. Als er zum Ende seiner Rede kam, hielt sie die Luft an: „ …zu hinterlassen, von makelloser Schönheit, dass alles macht diesen Tag so denkwürdig. Ich bitte, meine Werke auf Fingerzeig zu enthüllen.“

Die Seidentücher raschelten. Sie schloss die Augen; ihr wurde schwindlig. Als sie keinen Mucks hörte, blinzelte sie vorsichtig. Mit offenen Mündern starrten die Gäste auf die Leinwände. Starrten auf die Gemälde, auf denen jedes Antlitz das ihre war: Eine sorgfältige Fotografie ihres Gesichtes mit einem Mona- Lisa- Lächeln. Brausender Applaus und „Chapeau!“- Rufe wurden laut. Ihr Gesicht erhellte sich vor strahlender Genugtuung.

Plötzlich rief jemand: „Ein Arzt! Ist hier ein Arzt?“

Und da lag er, ihr Bohemien mit dem starken Herzen, das nicht mehr schlug. Völlig unästhetisch floss ihm Speichel aus dem schlaffen Mundwinkel. Seine halbgeöffneten Augen starrten sie mit dem bekannten Gesichtsausdruck an. „Und dann?“ fragte sie im Stillen und blickte auf ihn herab. „Dann fällt der Vorhang, ne pas?“ vervollständigte sie in Gedanken und musste an sich halten, um nicht laut loszuprusten.

Innerlich befreit ließ sie ihn fortschaffen.

Die Veranstaltung nahm ihren Lauf, schließlich ging es um die Darstellung seines Lebenswerkes. Und das war es ja wohl auch, war sie doch sein Lebenswerk.

Sabine Jacob
Letzte Artikel von Sabine Jacob (Alle anzeigen)